Nachdem ihr nun von unseren nicht ganz unambitionierten Plänen gelesen habt und wisst, dass wir eigentlich Großstadtkinder sind, fragt ihr euch vielleicht: „Wie in Eris Namen kommt man eigentlich auf die Idee, sein Leben derart umzukrempeln?“ Und klar, ich find’s selbst unglaublich krass, wenn ich darüber nachdenke, weil es nie unser langjähriger Traum war, auf dem Land zu leben. Als @andreas mich so vor 10 – 15 Jahren fragte, ob wir nicht in ein Häuschen am Stadtrand ziehen wollen, habe ich ihn noch für verrückt erklärt. Ich konnte mir absolut nicht vorstellen, irgendwo zu wohnen, von wo aus ich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln länger als 30 Minuten zur Staatsbibliothek brauchen würde. Und wer mir zu diesem Zeitpunkt Zimmerpflanzen schenkte, hätte sie eigentlich auch gleich auf den Kompost schmeißen können. Denn das wäre nützlicher gewesen, als sie in meiner Wohnung der gesicherten Verwesung anheim zu geben.
Die Frage nach dem Warum lässt sich nicht in einem Satz beantworten. Viele Ereignisse haben uns hierher geführt, allen voran vermutlich die Geburt unserer Kinder. 2014 kam unsere erste Tochter, und sie hatte es anfangs ziemlich schwer. Wir bangten um ihre Gesundheit, und es ging uns allen ziemlich mies. In meiner Verzweiflung war es ein Bild der Hoffnung, das mir @andreas in mein Hirn brannte: „Denk nicht darüber nach, wie schlecht es ihr jetzt geht! Stell dir lieber vor, wie sie irgendwann ausgelassen über eine grüne Blumenwiese springt!“ Und ich glaube, das war der Moment, der in mir zum ersten Mal diese Sehnsucht nach der grünen Blumenwiese weckte.
Dann kam das #CCCamp15. Wir hatten einen Camper gemietet und @andreas war fest entschlossen, die Orga des Family Villages zu schmeißen. Er wollte eine Community-Küche aufbauen und für alle Beteiligten kochen. Ich war eigentlich immer noch im Delirium wegen der Spätfolgen der Geburt und habe deshalb insgesamt wenig Erinnerungen an das Camp. Aber daran erinnere ich mich gut: Jeder Morgen begann damit, dass wir die Tür des Campers öffneten und das Baby zum Krabbeln auf den Rasen setzten. Wir waren den ganzen Tag draußen. Irgendjemand hatte einen Pizza-Ofen gebaut. Es wurde gemeinsam an der frischen Luft gekocht und gebacken, und ich machte mit dem Baby Mittagsschlaf in der Hängematte. Es war super. Wir waren glücklich. Und wir erkannten, dass wir nicht 4 Jahre darauf warten wollten, wieder so glücklich zu sein.
Also beschlossen wir im folgenden Winter, uns einen Garten zuzulegen, den man mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen könnte, weil wir ja kein Auto hatten. Wir kauften uns ein Wochenendgrundstück kurz hinter der Stadtgrenze mit einer kleinen Holzhütte drauf, in der es alles Nötige gab: Heizung, Strom, Wasser, Klo. Kein Bauland. Aber wir wollten ja auch gar nicht bauen, sondern einen Ort, an dem wir unsere Wochenenden und die Urlaubszeit verbringen könnten. Unsere Tochter sollte über eine grüne Blumenwiese springen können, während wir unseren Alltag weiterhin in unserer Mietswohnung im Stadtzentrum bestreiten würden. Es war quasi unser Kompromiss zur nicht gekauften Stadtwohnung, deren Immobilien-Preise längst jenseits dessen lagen, was wir uns damals hätten leisten können.
Im Garten selbst hatten unsere Vorbesitzer ein Gemüsebeet angelegt, und ich dachte mir so: Naja, wenn schon ein Gemüsebeet da ist, dann kann ich ja auch was aussäen. Ich hatte natürlich Null Ahnung und streuselte einfach ein paar Samen von Gemüse, das ich gerne aß, auf den ausgemergelten Sandboden. Ich hatte die naive Hoffnung, dass die Natur schon der beste Gärtner sei und dass irgendwie schon alles von selbst wachsen und gedeihen würde. Es wuchs und gedieh natürlich nichts. Die meisten Samen gingen erst gar nicht auf, andere brachten nur kümmerliche Pflänzchen hervor. Die Radieschen schossen sofort in die Blüte, weil ich sie viel zu eng gesät hatte. Und die Kartoffel-Pflänzchen wurden allesamt vom Kartoffelkäfer dahingerafft, bevor ich überhaupt ergoogelt hatte, was für ein Ungetüm da sein Unwesen auf meinen Beeten trieb.
Aber mein Scheitern war mir Ansporn, es im nächsten Jahr besser zu machen. Also fing ich an, mich mit dem Thema Gemüseanbau auseinander zu setzen, mir Wissen anzueignen, die Natur zu beobachten und verschiedene Anbaumethoden auszuprobieren. Und mit jeder Saison wurden meine Ernten besser. Ich lernte Naturkreisläufe kennen und begreifen. Pflanzen brauchen Nährstoffe zum Wachsen. Aber die Nährstoffe müssen erst einmal in den Boden kommen. In der Natur (die ja am Ende doch der beste Gärtner ist) geschieht das über die Kompostierung der Pflanzenteile, die vor allem im Herbst und Winter zu Boden fallen und dort verrotten oder von Pflanzenfressern abgegrast und ausgeschieden werden. Pilze, Bakterien und Kleinstlebewesen zerkleinern und verdauen diese organischen Abfälle und verwandeln sie so in Humus. Die organischen Bestandteile werden durch biochemische Prozesse so umgesetzt, dass Pflanzen sie wiederum als Nährstoffe aufnehmen und wachsen und gedeihen können. Recycling – tolle Sache!
Ich fing also an, organisches Material zu sammeln und zu kompostieren. Und bald sah ich nicht nur den Gemüsepflanzen beim Wachsen, sondern vor allem auch sehr fasziniert den organischen Abfällen beim Kompostieren zu. Aus Apfelgriebschen, Kartoffelschalen und Blattlaub wurde neuer Humus. Alles wurde umgewandelt und wiederverwertet. Alles! Bis auf… die kleinen scheiß Bio-Aufkleber, die ich vom Supermarkt-Gemüse abzumachen vergessen hatte. Die kamen noch nach zwei Jahren in der Rotte komplett unversehrt aus dem Kompostierungsprozess wieder raus. Das Gleiche galt für Plastefolien, Adressaufkleber und Paketklebebänder, die auf Kartons hafteten und diverse Küchenschnüre, die der Gatte zum Kochen um sein Fleisch gewickelt hatte. Alles, was an Plaste und Metall versehentlich in den Kompost gefallen war, blieb da auch, unverändert – über Jahre. Das hat mich nachhaltig schockiert.
Was für ein Leid wir der Natur mit unserem unverottbaren Plastemüll antun! Natürlich hat man auch als Städter eine abstrakte Vorstellung davon, dass Umweltverschmutzung scheiße ist. Aber was es bedeutet, was es wirklich bedeutet, das habe ich in seiner ganzen Schrecklichkeit erst begriffen, als ich zum ersten Mal die unversehrten Bio-Obst-Aufkleber aus dem reifen Kompost popeln musste. Das ganze Wissen über die Folgen des menschen-gemachten Klimawandels, Trockenheit, Flut, Müllberge, Abgase, Waldsterben, Überdüngung, Biozide, Versandung und so weiter und so fort – das begreift man nicht wirklich, wenn man zwischen Häuserschluchten über Asphalt läuft. Es wird erst dann richtig erfahrbar, wenn man sich in die Natur begibt und an ihren Prozessen teilhat.
Eine zweite existentielle Erfahrung, die ich durch den Gemüsegarten gemacht habe, betrifft die Entschleunigung der Welt und das gute Gefühl, etwas Sinnvolles mit meiner Lebenszeit getan zu haben. Denn es ist eine ausgemachte Genugtuung, ein Gemüse essen zu dürfen, das man selbst produziert hat. Im Frühjahr hat man einen kleinen Samen ausgesät. Dann hat man das junge Pflänzchen behutsam in die Erde gesetzt. Man hat es den Sommer über gegossen, Unkraut gejätet, es mit Kompost und Mulch versorgt, bis man es im Herbst endlich erntet, zubereitet und isst. Die ganze Arbeit, die man geleistet und die ganze Zeit, die man darauf gewartet hat – all das wird direkt und unmittelbar mit der Ernte belohnt. Das ist ein sehr, sehr befriedigendes Gefühl.
Deutlich befriedigender, als tagtäglich in der IT-Abteilung meiner Firma zu sitzen und „Produkte“ zu entwickeln, die der Belästigung von Nutzern dienen und ohnehin reiche Leuten noch reicher machen. Natürlich war mir schon vor der Corona-Krise klar, dass mein Beruf nicht „systemrelevant“ ist. Aber was für eine unglaublich bescheuerte Verschwendung meiner begrenzten Lebenszeit mein Bürojob wirklich ist, das ist mir erst durch die Gartenarbeit richtig klar geworden.
Dabei habe ich eine Familie, die mich braucht und die ich viel öfter mit frischem, selbst angebautem Gemüse versorgen könnte, wenn ich mehr Zeit und Platz im Garten hätte. Natürlich ist Gartenarbeit körperlich anstrengender, als Büroarbeit. (So ein Kompost setzt sich schließlich nicht von allein um.) Aber sie ist auch deutlich meditativer und erlaubt es, die Gedanken in die Ferne schweifen zu lassen und nach Antworten auf die großen Fragen nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest zu suchen. Und die brauchen wir so langsam mal…
Denn: Was ist eigentlich, wenn wir die Klimakatastrophe nicht aufhalten können? Was werden unsere Kinder uns vorwerfen, wenn sie vor den Ruinen unserer Zivilisation stehen? Was sollen wir essen, wenn die Liefer- und Versorgungsketten zusammenbrechen? Wie sollen wir uns schützen, wenn Seuchen ausbrechen oder Kriege um Ressourcen? Warum geht es immer nur um Wachstum? Wessen Leben soll der Kapitalismus eigentlich besser machen? Wen werden wir retten, wen in unserer grenzenlosen Arroganz und unersättlichen Gier krepieren lassen?
All das sind Fragen, die sich unsere Eltern so noch nicht stellen mussten, die aber unsere Generation und vor allem die Generation unserer Kinder ganz konkret und ganz existentiell betreffen. Der Klimakollaps ist ja keine ferne, abstrakte Dystopie mehr. Er hat längst begonnen und wir bekommen die Folgen bereits weltweit zu spüren. Trotzdem steuern wir sehenden Auges auf die globale Apokalypse zu, ohne zu handeln und es ist unbegreiflich und beängstigend.
Wir können unser Nichtstun nicht länger vor unseren Kindern rechtfertigen. Denn sie werden, schlimmer noch als wir, die Konsequenzen tragen müssen. Der erstarkende, sich radikalisierende Umweltaktivismus, die weltweiten Schul- und Klimastreiks – das alles zeigt uns, dass unsere Kinder verstehen, was auf uns zukommt und dass sie nicht gewillt sind, es tatenlos geschehen zu lassen. Wir können ihnen keinen Planeten hinterlassen, der in Schutt und Asche liegt und so tun, als wäre es nicht unsere Schuld. Wir können dieses kaputte System der Ausbeutung nicht weiter durch unser in ihm Funktionieren am Leben erhalten. Es muss sich etwas ändern… WIR müssen uns ändern!
Im Herbst 2019 hat sich diese längst vorhandene, diffuse Ahnung für uns dann endlich explizit als Erkenntnis manifestiert. Von da an wussten wir, wo es mit uns als Familie hingehen musste: nämlich hin zum alternativen Leben, Land, Null-Energie-Haus, Selbstversorgung und zurück zur Natur, um diese respektieren, verstehen und erhalten zu lernen!
Natürlich ist uns bewusst, dass es ein unglaubliches Privileg ist, dass wir überhaupt probieren können, diesen Weg zu gehen und dass es nicht ausreicht, nur zu versuchen, unsere eigenen privilegierten Ärsche zu retten. Wir brauchen ein politisches und wirtschaftliches Umdenken, gerade in der sogenannten „westlichen Welt“, deren „Vorsprung“ und Luxus auf der Ausbeutung anderer Völker und ihrer Ländereien beruht. Die großen Veränderungen, die wir als Weltgemeinschaft brauchen, um den Planeten zu retten, werden nicht (allein) durch das freiwillige, private, okölogische Handeln des Einzelnen herbeigeführt. Sondern wir müssen das Handeln der Konzerne regulieren. In diesem Sinne solidarisieren wir uns nicht nur mit jedem, der auf’s Fliegen verzichtet, seinen Fleischkonsum reduziert oder seine eigenen Kartoffeln anbaut – sondern ganz klar auch mit denen, die sich an Bäume ketten, Straßenkreuzungen blockieren, demonstrativ die Schule schwänzen oder Flüchtlinge aus dem Mittelmeer retten.
Marina twitterte heute Morgen: „Irgendjemand muss anfangen. Ob die anderen mitziehen, ist irrelevant.“
DAS ist unser Anfang!
Das ist wirklich großartig. Wer bis jetzt nicht verstanden hat, was Euch treibt, hat nichts begriffen. Dabei wollt ihr keine halben Sachen. Es geht um das große Ganze in seiner ganzen Komplexität. Ein systemisches Denken, wie ich es mir in meiner Vorstellung nicht besser hätte erträumen können. Dafür wünsche ich Euch viel Kraft und viel Unterstützung. Ich schaue immer wieder rein, was es Neues „am Arsch der Heide“ gibt. Eines Tages wird es nicht mehr „am Arsch der Heide“ sein. Die Selbstversorgung für die Ernährung, die natürlichen Ressourcen für Energie nutzen und die Landschaft gestalten wie Wald und Garten, Toll, ein Lebenswerk.
Ja, genau. Und das ist etwas, das wir so in der Stadt in seiner systemischen Gänze nie hätten realisieren könnten. Nicht mal am Stadtrand, wenn man um sein Häuschen nur einen 1 m breiten Gießrand mit wohlgestutztem, unkrautfreiem Rasen oder (noch schlimmer) Kieselsteinwüste hat. Auch Tierhaltung, die für den Nährstoffzyklus so enorm wichtig ist, wäre bspw. mit einem Wochenendgrundstück nicht möglich, weil Tiere täglich versorgt sein wollen, sofern sie nicht sowieso wild leben.
Der Luxus, den wir uns geleistet haben, ist Platz, ausreichend Platz, um die Natur um uns herum so zu gestalten, dass sie uns versorgen UND sich gleichzeitig regenerieren und erhalten kann. Vielleicht reicht es ja, um euch in der Stadt auch irgendwann mit Care-Paketen zu versorgen. Oder ihr kommt einfach regelmäßig zum gemeinsamen Kochen und Essen rum. Hast ja jetzt erfahren, dass es doch gar nicht so umständlich ist. 😉